Sonntag, 7. November 2004

Gespenster

Schon schlecht war, dass ich zwanzig Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt da war. Ich sitze also auf einem muffigen Sofa und rauche. Als der Kellner das zweitemal kommt, um zu fragen, ob es schon etwas sein dürfte, höre ich mich selber erklären, dass gleich noch ein Freund kommt und ich dann bestelle. Der Kellner zieht wieder ab.

Als der angekündigte Freund endlich erscheint, beugt sich der Kellner erneut über den Tisch. "Na, da isser ja endlich.", grinst der Kerl mich an. "Hast du lange gewartet?", werde ich gefragt und verneine auch noch. Langsam wird mir unbehaglich, ich ziehe meine schwarze Stola enger um meinen Oberkörper, rauche noch mehr und verschütte promt etwas Bier auf meinem Rock.

Dann lobt er meinen Friseur, erzählt von einer Umstrukturierung in Ungarn und einer Ausgründung in Österreich, wuschelt sich durchs Haar, das etwas höher ansetzt als damals und fragt unvermittelt nach mir. Heiratspläne? Kinder? Job? Ich antworte brav, sage Biographie auf und er nickt reichlich unbeeindruckt. Schön denke ich. Mir reicht´s, denke ich. Und bestelle nach.

Er zeigt Photos von seiner Hochzeit im Sommer, bei der ich abgesagt habe. Seine Braut sieht gut aus, dunkel und geheimnisvoll mit riesengroßen Augen. Wir gleichen Erlebnisprotokolle ab, Theaterpremieren, Ausstellungen, Bekanntschaften, Städte, in denen wir waren und schließlich kommt die Rede auf jene Stadt, in die wir gemeinsam gefahren sind und die ich allein im Zug verließ. Es gibt ein Photo von mir vor dem Jugenstilbahnhof, ein paar Tage vor meiner Abreise. Lächelnd, vor dem Portal.

Aus Aberglaube, sagt er, sei er nie wieder in diese Stadt gefahren. So egal, denke ich mir, scheint es ihm also doch nicht gewesen zu sein, wie ich damals dachte. Wir vermeiden seine fürchterliche Mutter und meinen besten Freund, der ihn gehasst hat, und dem ich dieses Treffen noch fünf Jahre später verschweigen werde.

Als das Schweigen fürchterlich wird, stehe ich auf. "Soll ich dich heimfahren?", fragt er, der mindestens so betrunken ist wie ich. Ich verneine, steige in ein Taxi und fahre nach Hause. Im Fond des Wagens fange ich an zu zittern. Es war damals richtig, gefahren zu sein. Aber wäre alles anders gewesen, seine Mutter, mein bester Freund, sein Ehrgeiz und meine Examenspanik, dann läge er morgen früh neben mir im Bett.

Noch mal davon gekommen.


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