Freitag, 14. Januar 2005

Manfred Fuhrmann ist tot

„PISA“, so T., sei der Sieg der Sozialdemokratie über den Geist: Dieser Glaube, Bildung diene der ökonomischen Verwertung, sichere Industriearbeitsplätze und habe etwas mit Ganztagsschulen und Kindertagesstätten zu tun.

„Ja,“, sage ich achselzuckend und winke dem Kellner. Das möchte wohl so sein. Aber was der durchschnittliche Fünfzehnjährige weiß, kann oder denkt, bewegt sich außerhalb meiner Sphäre. Die PISA-Debatte ist mir vollkommen egal.

T. wirkt leicht verstimmt.

Ich habe T. im Verdacht, seine Reden an die Nation und andere Völkerschaften sorgfältig vorzubereiten. Und so ist mir klar, dass ich der Rede nicht entgehen werde über Bildung, PISA und die Sozialdemokratie, die zu T.´s Privatobsessionen gehört.

Als mit einiger Verspätung R. erscheint, ist es dann soweit. Während ich in den erkaltenden Resten meiner Tagliolini stochere, erledigt T. den funktionalistischen Bildungsbegriff, die Bundesbildungsministerin und jene Lehrer, die das Heil der Ausbildung darin sehen, die Erstellung von Präsentationen zu vermitteln und die Fähigkeit, Inhalte aus dem Internet zu laden als eine wesentliche Kulturtechnik ansehen.

Nach einer effektvollen Pause, die ich zur Bestellung des Desserts nutze, fährt T. fort. Nostalgie senkt sich über die karierte Tischdecke, während T. eine Vergangenheit beschwört, die niemand von uns durch Erfahrung kennt. Damals, als die Großväter noch fließend Latein sprechen konnten. Als der Student in Goethe das Gute, Wahre und Schöne suchte und fand.

„Die Sozialdemokratie,“ dekretiert T., „hat Kritik und Rezeption zu Unrecht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis vermutet.“ Ich ächze ein bißchen. Allerdings ist T. erfahrungsgemäß gegen den Vorwurf der Weltfremdheit ebenso immun wie gegen unzureichende Faktenbasis, und so schweige ich und schaue den träge durch den Raum ziehenden Rauchschwaden meiner Zigarette hinterher.

Mit R., die ich nicht sehr gut kenne, hat T. offenbar ein dankbareres Publikum gefunden. Begeistert breitet die ruhige, etwas unscheinbare Frau die Arme aus. T. habe artikuliert, was sie schon immer gedacht habe. Ich denke kurz an die befristete halbe Assistentenstelle, mit der die kluge R. nicht ein Fünftel soviel verdient, wie ihre Klassenkameraden. Dann schaue ich aus dem Fenster, sehe Mütter mit Kind die Kollwitzstraße herunter schlendern, und ordere noch einen Espresso.

R. befindet sich nun im Zustand gehobener Erregung. Auf ihren Wangen bilden sich zwei erdbeerrote Flecken, sie atmet hörbar und trompetet:

„Und dann ist auch noch Manfred Fuhrmann gestorben!“

Wenn einem der Gäste des Delizie d´Italia dieses Faktum noch unbekannt gewesen sein sollte, so ist es R.´s Verdient, für Aufklärung gesorgt zu haben. Ein dicker, etwas pickliger Mann schaut sich auch prompt nach uns um. Besonders traurig wirkt er allerdings nicht, höchstens etwas besorgt, wobei die Sorge mehr dem Zustand der R. als dem Heil Fuhrmanns gelten dürfte.

Nun sind alle Dämme gebrochen, T. verlässt das Drehbuch und geht zur Improvisation über und zitiert aus Fuhrmanns großartiger Cicero-Übersetzung. Gegen Verres. Pro Sexto Roscio Amerino.

Wer im Angesicht Ciceros einen Digestif zu trinken vermag, hat keine Seele, sagt der T.; so zahlen wir und laufen die Straße herab. Die Straßenzüge rechts und links täuschen eine bürgerliche Vergangenheit vor, die es so nie gegeben hat, zumindest nicht hier. R.´s Schritte schlagen hart auf die Gehsteigplatten, und T., der die Häßlichkeit der Welt mit eleganten Gesten beklagt, beschwört eine arkadische Vergangenheit aus ehrwürdigem Papier.

Wiederkehr des Parasiten

„Sie können den Vortrag auch mit einem Partner vorbereiten.“, sagt Dr. V..
„Vielleicht nicht schlecht.“, sage ich. Denn ich habe genug auf dem Schreibtisch, und ein Vortrag macht Arbeit, noch mehr Arbeit macht dann der Beitrag für den Tagungsband, und so frage ich Dr. V. nach Namen.

„Der Dr. F. würde auch gerne. Schafft´s aber nicht mit einem eigenen Beitrag. Da finden sie sich bestimmt zusammen. Denken sie drüber nach und melden sie sich“, Dr. V. hängt auf.

F., denke ich. F. sagt mir was. F. kenn´ ich. - Und brühe mir eine frische Kanne Tee.

Und dann, auf einmal, als käme er just zur Tür hinein – sehe ich F. Klein, mit dünnen, stark behaarten Armen. Wieso mir gerade diese Arme so vor Augen stehen?

Natürlich. August 2001. Die Terrasse. - Sein Institut hatte seine Büros an der Südseite des Juridicums. Und an der Südseite gab es eine Terrasse. Und auf dieser Terrasse hatte F. mir gegenüber gesessen, mit hoch aufgekrempelten blaukarierten Hemdsärmeln. Und um einen Vortrag ging es auch, allerdings nicht um meinen, sondern um den meines Chefs, der mit F.´s Chef einen Gemeinschaftsbeitrag erarbeiten wollte. Und F. und ich sollten den Entwurf schreiben.

„Du bist Modeste“, begrüßte mich der F. damals, gute zehn Jahre älter und schon tief in der Habilitation, deren Besprechung ich letztes Jahr irgendwo überflogen habe .
Ich setzte mich ihm gegenüber. F. fuhr fort, an seiner Zigarette zu ziehen und blies den Rauch über die Brüstung.
„Wie hast du dir den Vortrag vorgestellt?“, F. sah mich an, und ließ den Blick wieder lässig übers Tal schweifen. Ich zog meine Notizen aus der Mappe und fing an. F. unterbrach mich.

„Hast du schon Vorträge ausgearbeitet?“ Ich verneinte. F. seufzte. Alles würde also wieder ihm hängen bleiben. Er kenne das schon. Zumindest die Recherchen könnte ich aber machen. Das sei ihm schon eine Hilfe. Und an einer ersten Grobfassung könne ich mich ja mal versuchen. Mein Konzeptpapier sei nicht schlecht, an sich. Er werde das Papier überarbeiten und mich anrufen. Oder er werde mir die Arbeitsaufträge faxen. Und die Koordination mit den Vortragenden könne er auch machen, das sei eine Sache der Erfahrung. Ob ich mitkäme zur Tagung? Ich könne mir den Aufwand natürlich auch sparen. Er sei ja schon das dritte Jahr dabei, er könne die Präsentation machen. Ich nickte, leicht verwirrt. Dann deutete F. an, er müsse jetzt arbeiten, und ich ging sehr eingeschüchtert und mit dem leichten Gefühl, übers Ohr gehauen worden zu sein, davon.

In den nächsten Wochen geschah alles, wie F. sagte. Es war eine Menge Arbeit. Nachdem ich meinen Entwurf bei F. abgeliefert hatte, hörte ich nie wieder vom Vortrag, und nie wieder vom F.

Am Nachmittag rufe ich also bei Dr. V. an. V. sei nicht da, teilt mir seine Sekretärin mit. Wo er sei? Sie sei seine Tippse und nicht seine Kindergärtnerin. Ich könne später anrufen. Oder morgen. Ich schreibe ein Post-It: V. anrufen, und vergesse die ganze Sache.

Als ich spät heimkomme, blinkt der Anrufbeantworter. Es ist F. Dr. V. muss ihm die Nummer gegeben haben.

Dumpf, wie aus dem Inneren einer leeren Dose quäkt F. aus meinem Uraltanrufbeantworter. Und er sagt:

„Modeste, du bist ja inzwischen auch ein alter Hase im Metier. V. sagt, du kannst mir ein bißchen Arbeit abnehmen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Vielleicht kannst du ein paar Vorarbeiten machen, Recherche, erster Entwurf. Um den Rest kann ich mich kümmern. Bist du bei der Tagung die ganze Zeit dabei?“


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