Donnerstag, 17. Februar 2005

Ich, die Hypochonderin

„Etwas wirklich Ernsthaftes haben Sie also nicht?“, die Ärztin schaut mich streng an. Ich rutsche ihr gegenüber auf der Plastiksitzfläche des Stuhles ein wenig umher. Angesichts der Massen schniefender, Tröpfcheninfektionen versprühender Patienten im Wartezimmer hatte mich diese Idee zwar auch schon beschlichen. Indes – wäre nichts, wäre ich nicht hier, und so packe ich den Stier bei den Hörnern.

„Sehen Sie,“, sage ich der ungefähr sechzigjährigen Ärztin, „es ist jetzt nicht so akut. Halt etwas Herzklopfen, Händezittern in den Morgenstunden, ein gelegentlich nervöser Magen und hin und wieder Schlafstörungen. Das hält nun schon einige Wochen an, beeinträchtigt mein Wohlbefinden in gewisser Weise schon, und da dachte ich...“ – Die Ärztin schaut noch strenger.

„Nehmen Sie Drogen?“, ich schüttele den Kopf. Alkohol? – Mäßig. Dafür rauche ich. Die Ärztin schnaubt. Wann ich zu Bett gehe? Was ich beruflich tue? Habe ich Kinder?

Die Darlegung meiner persönlichen Verhältnisse scheint die Ärztin nicht zufriedenzustellen. Etwas unbehaglich rutsche ich hin und her. Die Ärztin hält ein flammendes Plädoyer für einen geregelten Tagesablauf, regelmäßige und maßvolle Mahlzeiten im Abstand von jeweils wenigen Stunden, nächtliches Schlafen und Nikotinabstinenz. Hinter ihr im Spanplattenregal stehen die Miniaturen der Wirbelsäule früherer Opfer als Trophäen und Warnung nebeneinander.

„Die Schwester wird jetzt ein EKG mit Ihnen machen.“, bescheidet mich die Ärztin.

Nach dem EKG sitze ich stundenlang im Wartezimmer auf einer ungeschlachten Couch und blättere in den ausliegenden Zeitschriften. Mein mitgebrachtes Buch habe ich lange durch, draußen dunkelt es, und nach und nach leert sich das Wartezimmer, bis schließlich auch ich erneut in die Ordination gerufen werde.

„Frau Modeste,“ verkündet mir die Medizinerin, „Ihr EKG ist völlig in Ordnung. Sie haben nichts. Suchen Sie sich eine vernünftige Beschäftigung und schlafen Sie regelmäßig.“ Die Ärztin streckt mir die Hand über ihren Schreibtisch hinweg entgegen und verabschiedet mich. "Machen Sie die Tür hinter sich zu.", ruft mir die Ärztin auf dem langen Weg zur Tür noch hinterher.

Längst abgemessen

Meine Freundin erzählt von ihrem langsam in den Wahnsinn abgleitenden Bruder und tut mir leid dabei mit ihrem Schwanken zwischen Ekel und Mitleid und der feinen Prise von Selbstvorwürfen, die wohl immer dabei ist, wenn denen, die wir lieben, etwas geschieht. Hinter den großen Fenstern ist es kalt und dunkel, und das gedimmte Licht über der Bar wirft weiche Schatten, in denen die Gesichter verschwinden.

Wir sind alle tot, denke ich. Am Nachbartisch greift ein Mann seiner Begleiterin an die Wange, als wolle er sich vergewissern, dass da Fleisch ist unter seiner Hand. Die Kruste der Crème Brûlée bricht noch, noch kommt der Kellner, wenn ich winke und im Spiegel über dem viereckigen Waschbecken lacht noch eine Frau, die einmal mehr ihren Friseur wechseln sollte.

„Bist du auch wieder einmal daheim,“ begrüßt mich mein Vater, als ich noch in meiner Jacke das Telephon abnehme. Er ist heiterster Stimmung, plaudert und lästert, liest mir Rätselgedichte vor, und lässt mich ein Geschenk erraten, das er mir von einer kurzen Reise mitgebracht hat.

Kurz denke ich an jenes ausnahmslos geltende Tabu, eine Stimmung zu durchbrechen, aber dann frage ich ihn doch nach dem Tod. Und ob Berlin schon die Unterwelt sei, der Totenfluß irgendwann gleichgültig über eine Autobahnbrücke überschritten. „Ach, geh,“, lacht mein Vater, und malt mir in braunen und pastellenen Kreiden jenen Moment aus, ein Absinken in leuchtenden Schlamm, Schmerz und Verwandlung. Dann kündigt er ein Paket in den nächsten Tagen an und wünscht gute Nacht.

Als ich im Bett liege, klingelt es, aber ich mache nicht auf. Im Dunkeln stehe ich am Wohnzimmerfenster und sehe einen Wagen auf der anderen Straßenseite lange stehen und schließlich davon fahren.


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