Freitag, 18. Februar 2005

Unbefriedigte Nachfrage

"Nun, Herzchen, das sind ja ganz neue Töne.“, T. steht konsterniert im Türrahmen. Ich beteuere, heute abend das Haus nicht einmal mehr dann für eine Party zu verlassen, wenn Gottvater persönlich angekündigt wäre. T. schimpft noch ein bißchen über die ausgeschalteten Telephone, dann schließt sich die Tür, und ich stehe ergebnislos vor dem Bücherregal. Der von amazon angeforderte Nachschub ist noch nicht da, nichts schreit heute abend nach Wiederlesen, und so beschließe ich, einen Film sehen zu wollen und stelle mir das Notebook vors Bett.

DVD´s habe ich sozusagen keine, fällt mir als ernsthaftes Hindernis meiner Pläne ein. Der DVD-Besitzer meines Vertrauens, der T., befindet sich an einem mir unbekannten Ort, jedenfalls aber keinesfalls daheim, und dies dürfte auch für die anderen Menschen gelten, die entweder DVD´s besitzen, oder zumindest eine Ausleihkarte einer Videothek ihr eigen nennen. Kurz überlege ich, selber eine Videothek aufzusuchen, zur Torstraße zur fahren, und dort Mitglied zu werden, aber bevor ich heute das Haus noch einmal verlasse, surfe ich eher bis zum Abwinken durchs Netz, um dann zu Bett zu gehen.

Zu essen ist auch nichts mehr im Haus, und die Flyer der Bringdienste sind alle umweglos in der Kiste gelandet, die derartigen Müll unter den Briefkästen aufnimmt. Also fahre ich den Rechner wieder hoch, tippe in das Google-Feld „Bringdienst Berlin indisches Essen und DVD“, aber kein Inder will mir Rahmkäse mit Spinat bringen und den noch ungesehenen letzten Almodóvar dazu. Auch die Pizzadienste der Stadt zeigen sich widerspenstig.

Eine Stunde später würde ich fast alles essen und rufe den erstbesten Pizzaservice an.

„Wieso führen Sie eigentlich keine DVD´s?“, frage ich den Mann an der anderen Seite der Leitung. „Wieso repariere ich keine Wasserrohrbrüche?“, fragt der Pizzakerl und weist die restliche Bestellung wegen Geringfügigkeit zurück.

Nun denn. Spaghetti mit Olivenöl und Chilipfeffer. Und hätte ich heute etwas mehr Energie, ein Quentchen mehr als die komplette Antriebslosigkeit, die nicht einmal mehr zum Badewannenbefüllen reicht – ich stände auf meinem Balkon, der Wind rauschte durch mein Haar, und ich würde brüllen:

„Nie wirst Du, Berlin, auf einen grünen Zweig kommen. Nichts zu essen und keinen Film. Hier steht die zahlungswillige Nachfrage, Herr Wowereit, stopft sich diese lappigen Nudeln in den Schlund, und bereichert T-Online in Darmstadt.“

Kunst und Frohsinn

Subjektiv stehe ich jeden Morgen kurz vorm Magendurchbruch. Objektiv scheint indes keine solche Gefahr zu drohen, und so schicke ich meinen Begleiter auf den weiten Weg um ein weiteres Glas Wein. Es ist in diesem an sich intimen und angenehmen Laden lauter und voller als an irgendeinem anderen Abend: Eine Frau in einer Art Vintage-Dirndl läuft mit einem Kuchen auf dem Kopf durch den Raum, Leute singen und das Lachen einiger Frauen, die gläserschwenkend zwischen den Tischen stehen, wird immer durchdringender und schriller.

Als weiter hinten im Raum eine Tischecke frei wird, versuche ich den Durchmarsch. An der ersten Ecke werde ich festgehalten. „Hey,“, begrüßt mich eine lockige Fremde, „Bist du Schauspielerin?“ Ich schüttele mittelmäßig irritiert den Kopf. Die Frage ist nachts während der Berlinale zwar nicht so abwegig, wie dies an anderen Orten oder zu anderen Zeiten anmuten mag. Allerdings ist die Vermutung individuell schon eher fernliegend, und so frage ich die Fremde nach der Ursache der Frage.

Die Frau, so stellt sich heraus, ist Regisseurin und plant einen Kurzfilm, der am kommenden Wochenende gedreht werden soll. Die Finanzierung steht, ein Kameramann ist aufgetrieben und das Drehbuch fertig, da verschwindet die mir optisch nicht unähnliche Schauspielerin und ward nicht mehr gesehen.

Das Drehbuch umfasst exakt zwei nicht ganz volle Seiten und könnte in seiner ganzen gespreizten Banalität von Judith Hermann stammen, so etwas mit melancholischem, einsamen Mädchen in Berlin, einem Kerl, emotionalen Ausbrüchen, Entfremdung trotz Gemeinsamkeit. „Das klingt ja total interessant!“, sage ich deswegen, und dass ich leider gar nicht schauspielern kann. „Macht nichts!“, sagt die Frau, und zieht mich um den Tisch. Auf einer Kiste sitzend probe ich den emotionalen Ausbruch. In der vollbesetzten Bar fällt mein Ausbruch gerade einmal nicht für fünf Pfennig auf, da außer meiner gespielten Szene noch mindestens zehn weitere Gefühlsausbrüche parallel stattfinden. „Fassungsloser!“, sagt die Frau. Auf der anderen Seite des Tisches grinst mein Begleiter und kippt weiteren Wein in mein Glas.

„Du machst das gut.“, sagt die Fremde dann, und fragt, ob ich mitmachen würde. „Klar,“ sage ich, und versuche mich zu erinnern, ob, wieviele und welche Termine ich am Wochenende verschieben müsste, und ob es sehr peinlich sein wird.

Die emotionale Siedestufe in der Bar erreicht unterdessen geradezu vulkanische Höhepunkte, die gläserschwenkenden Frauen quietschen und kreischen, und wir fliehen ins 103, wo fast alle guten Nächte enden.


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