Sonntag, 3. April 2005

Parapsychologie

„Wie geht´s deiner Familie?“, fragt J², ehemaliger Zweitbesuch und nunmehr frischgebackener Berliner. Ich berichte von meines Vaters Urlaubsplänen, gebe die Verschönerungsaktionen meiner Mutter zum Besten, und spreche ziemlich wenig über meine Schwester, um keine schlechte Laune zu bekommen. Dass mein Onkel unterdessen ausgezogen ist, stößt auf interessierte Ohren, und anlässlich desen fühlt sich auch J² animiert, über seinen Onkel zu sprechen, der sich zwar schon vor langer Zeit von seiner Angetrauten getrennt hat, nunmehr aber eine neue Lebensgefährtin an seiner Seite hat.

Die Lebensgefährtin ist wohl eine an sich reizende Person, eine gemütvolle und lebhafte Frau, wie sie Köln am Rhein wohl häufiger hervorbringt. Ungewöhnlich an dieser Kölnerin scheint lediglich zu sein, dass sie Stimmen hört, die nicht von Personen in ihrer Nähe oder akustisch wahrnehmbaren Medien herrühren sollen, sondern von verstorbenen, der neuen Lebensgefährtin ehemals nahestehenden Menschen.

Dieser ungewöhnliche Sachverhalt soll die Lebensgefährtin ein wenig irritiert haben. Um es genauer zu bezeichnen: Die Lebensgefährtin begann, ernsthaft an ihrer Vernunft zu zweifeln. Sollte, sie, so die Lebensgefährtin im vertrauten Kreise, vielleicht zumindest in diesem partiellen Bereich ihres Lebens den Verstand verloren haben und sich nunmehr in jenen Sphären bewegen, die wir als Geisteskrankheit bezeichnen?

Die Stimmen der Toten, so mein geschätzter J², wurden mit der Zeit eher lebhafter. Die Frau kommunizierte unter anderem mit ihrem Vater, denn nicht nur sprachen die Toten zu ihr, nein, auch ihre persönlichen, wenn auch durch die Beschränkung aufs Diesseits für ihre Gesprächspartner ein wenig unergiebigen Ansichten konnten übermittelt werden. Die Lebensgefährtin wurde dabei zunehmend nervös.

Zu einem externen Psychologen traute sie sich nicht aus Angst vor Einsperrung. Ihr Gefährte und ihr Schwager, zumindest kommerziell erfolgreiche Therapeuten, nahmen das Phänomen nicht besonders ernst. Schließlich aber, die Not war groß, setzte sich die Dame vor jenes Gerät, dem angeblich viele Menschen Erquickung und Erkenntnis verdanken: Vor einen Fernseher.

Wie allgemein bekannt sein dürfte, verbreiten öffentliche wie private Sendeanstalten nicht nur Spielfilme. Auch Begebenheiten der tatsächlichen Welt finden ihren Niederschlag in dem Programm des deutschen Fernsehens, und insbesondere ergehen sich sogenannte Experten zu den unterschiedlichsten Gebieten des menschlichen und unmenschlichen Lebens, um den interessierten Teilen der fernsehenden Bevölkerung Aufklärung zuteil werden zu lassen.

Im Rahmen einer von der Gefährtin des Onkels verfolgten Fernsehsendung, die sich mit Phänomenen der Parapsychologie beschäftigte, kam entsprechend auch einer jener Experten zu Wort. Es handelte sich um einen Parapsychologen, der gleichfalls mit den Toten in Kontakt stand. Die Lebensgefährtin war elektrisiert.

Man hört häufiger von Menschen, die sich von öffentlichen Personen extrem verstanden fühlen, und in den sich öffentlich artikulierenden Busen ein verwandtes Herz klopfen hören. Im Allgemeinen beruht diese Ansicht auf einem Irrtum.

Zum Glück für die Lebensgefährtin verhielt es sich in diesem Fall völlig anders. Nach nur kurzer Suche nach Anschrift und Telephonnummer hielt die Gefährtin des Onkels eine Kontaktmöglichkeit in Händen, denn das Institut des Experten war unterhalb seines Kopfes ins Bild eingeblendet. Noch in der selben Woche rief sie ihn an, und der Experte zeigte sich sehr verständnisvoll. Leider, so sprach er zu ihr, sei ihre spezielle Fähigkeit in der Bevölkerung wenig verbreitet. Es habe zu jeder Zeit Menschen gegeben, die dieses Können besessen hätten, leider sei ausgerechnet unser rationalistisches und den Kräften der Seele wenig aufgeschlossenes Zeitalter wenig geneigt, jenes Talent zu würdigen. Sie habe daher gut daran getan, ihr Wissen besonders den Jüngern des Äskulap zu verschweigen. Am besten sei es sowieso, sie spreche gar nicht mehr davon, denn auch nahestehende Menschen könnten beginnen, sie als sonderlich zu betrachten und ihre Gesellschaft zu meiden.

Die Gefährtin war glücklich und erleichtert.

Seit Monaten nun schon schweigt die Lebensgefährtin von J²´s Onkel über ihre Konversation mit verstorbenen Personen. Kein Zweifel besteht daran, dass ihre Gespräche auch weiterhin fortdauern, indes erfährt nicht einmal ihr Liebster von dem Ob und dem Wie dieser nachgetragenen Bekanntschaften.

„Findest du das nicht ein bißchen eigenartig?“, frage ich den J², denn die Dame scheint mir nach Erhalt dieser Information nun doch eine wenig erbauliche Verwandtschaft des geschätzten Freundes zu sein. „Nein, nein,“, winkt jener ab. Problematisch seien doch immer doch nur die Verrückten mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. Und vielleicht habe sie ja sogar recht.


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