Dienstag, 12. April 2005

Im Pausensommer

Einen ganzen langen Sommer irgendwann in der zweiten Hälfte der Neunziger lagen wir am Pool einer Freundin, deren Eltern so gut wie nie daheim waren. Das Haus lag am Ende der Welt zwischen Kornfeldern und Laubwäldern, die als ein grüner Saum den flirrenden Himmel und das zunehmend trockene Gelb der Felder trennten. Vorbei kam nur, wer eingeladen war, es gab keine Nachbarn, es gab keine Straße, nur einen Feldweg, der von einer Bundesstraße aus kilometerweit durch die Hügel führte, bis hinter einer Taxushecke schließlich das Haus auftauchte, ein weißer Bungalow am Ende der Welt.

Wir waren zu fünft damals, lagen um den Pool herum, und wenn ich mich richtig erinnere, dann hatte ich in diesem Sommer den letzten Bikini an, den ich jemals mein eigen nannte, ein Neckholder, schwarz, mit weißen Nähten. Auf den beiden Photos, die ich noch habe, schaue ich mir fröhlich und sonnenverbrannt entgegen, einmal mit Sonnenbrille und einmal ohne. Der Freund, mit dem die Liebe damals zu Ende ging, befand sich irgendwo auf dem Balkan, und der, der erst noch mein Freund werden sollte, fuhr durch die USA. Ab und zu schrieben sie Briefe, die ich vielleicht einmal die Woche aus meinem Briefkasten zog, um dann hochzugehen in meine erhitzte, leere Wohnung, in der der Staub immer dicker auf den Regalen lag, und mit ein paar frischen Kleidungsstücken in der Tasche wieder abzuziehen.

Am Abend zogen wir uns Jeans über die Bikinihosen, befeuerten hin und wieder den gemauerten Grill, und tanzten ohne Zuschauer auf dem Gras. Die Gastgeberin sprengte den Rasen und spritzte uns mit dem Schlauch nass, wenn eine gerade nicht aufpasste. Nachts schlief ich in einem riesigen Gästebett, dessen andere Hälfte meine damals beste Freundin einnahm. Den einzigen Mann, den ich wochenlang sah, war der Gärtner der Eltern der Gastgeberin, der einmal die Woche vorbeikam und die Beete pflegte.

Ein paar Monate später heiratete die Gastgeberin, zog davon, und der Abend der Hochzeit war der letzte, den ich in dem Garten verbrachte, in einem luftleeren Raum zwischen den Akten, erfüllt von Musik, Hitze und Gelächter.

Die Gastgeberin ist inzwischen geschieden und denkt daran, ihr damals abgebrochenes Studium doch noch zum Ende zu bringen. 34 ist sie inzwischen, wohnt wieder bei den Eltern und das ist schwierig, mit Kind. Die beiden Schwestern aus meinem Semester, rotblonde Zwillinge, sitzen wieder im Badischen, Richterin ist die eine geworden, und ein Kind hat die andere, nachdem es mit dem Job nicht klappen wollte. Die Richterin ruft nie zurück, ihre Schwester dafür um so häufiger an. Es gehe ihrer Schwester nicht gut, sagt die mit dem Kind, und dass das Ende der letzten Beziehung nun auch schon zwei Jahre her sei. Der Mann habe sich nicht scheiden lassen wollen von der Frau, die halt schon da war. Gesundheitlich gehe es ihrer Schwester auch nicht gut. Wie es ihr selber geht, sagt sie selten. Die Karriere ihres Mannes läuft ziemlich gut, und eine passende KiTa hat sie auch gefunden.

Mein ehemals beste Freundin und nach wie vor gute Freundin lacht immer noch ziemlich viel, mag ihren Beruf, wenn auch nicht ihren Arbeitgeber, und könnte etwas mehr verdienen für die Arbeitszeiten und die Verantwortung und sowieso. Gut schaut sie aus, wenn sie mal in Berlin ist, oder ich bei ihr, was ungefähr alle sechs Monate der Fall ist in den letzten Jahren. Sie ist ein wenig üppiger geworden mit den Jahren, aber nicht dick, und den Grübchen und dem wunderschönen, dicken Haar schauen nach wie vor Männer nach, wenn sie im Café sitzt und lacht. In ihrer geschmackvollen Wohnung in einem schönen Stadtviertel der großen Stadt, in der sie lebt, wo die Bäume rauschen, hat seit dem Einzug aber noch kein Mann übernachtet, und das ist nun auch schon wieder drei Jahre her. Als ich sie anrief, um meine letzte Trennung durchzugeben, hat sie mich gewarnt, etwas sei vielleicht besser als nichts. Und es werde schwieriger werden, als ich denke, nicht allein am Frühstückstisch zu sitzen all die Jahre, die noch kommen.

Vor ein paar Tagen hat sie mich wieder angerufen. Die Gastgeberin in jenem Haus am Ende der Welt verbringe den Sommer allein im Haus, die Eltern seien auch diesen Sommer nicht da. Und ob ich auch kommen wolle, vielleicht nur ein paar Tage, oder auch eine Woche, wenn es denn passt. Und dass es doch schön wäre, gemeinsam grillen, am Pool liegen und im Garten tanzen, wenn keiner zuschaut.

Mysterien des Alltags

Schön ist es auch im drei am Helmholtzplatz, zumindest solange man dort nichts à la carte ordert, und so bestelle auch ich mir gelegentlich Menschen, die ich gerne um mich habe, in jenes Lokal von entspannter Urbanität. Hat man aber zwar bereits einen Tee bestellt, die bestellte Freundin ist jedoch noch nicht eingetroffen, so kann man sich bisweilen in seltsamen Zwischenrealitäten wiederfinden, vor denen ich auch an dieser Stelle nur warnen kann – aber urteilen Sie selbst:

„Modeste?“, wird man von der Seite angesprochen, und sieht sich einem schlaksigen, blonden Herrn gegenüber, der einem nicht einmal vage bekannt vorkommt. „Ja?“, antwortet man deswegen und kramt in seinem unaufgeräumten Gehirn nach diesem zwar minder markanten, aber so unauffällig nun doch wieder nicht gestalteten Gesicht, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Währenddessen nimmt der Fremde auf dem Sofa gegenüber Platz und beginnt angeregt und etwas hastig von einer Silvesterfeier zu sprechen, die zu besuchen man sich ganz und gar nicht erinnern kann. Zwar wäre man um ein Haar auf jener Feier ins Jahr 2004 gelangt, aber Kreuzberg ist weit, und wenn mich mein Gedächtnis nicht völlig trügt, so war man mit Personen, die man sogar noch namentlich bezeichnen könnte, vielmehr in der Volksbühne, und ganz und gar nicht bei jener Bekannten, die unweit der Bergmannstraße ein paar Menschen an ihrem Esstisch versammelt hat. „Da war ich gar nicht.“, sage ich daher zu dem Fremden. Man müsse sich bei anderer Gelegenheit begegnet sein, denn eine Verwechslung scheint aufgrund der Namensnennung jener wohl tatsächlich gemeinsamen Bekannten ausgeschlossen.

Der Fremde beharrt. Man habe sich diese ganze Silvesternacht angeregt unterhalten, er erinnert an ein paar Anekdoten aus dem Leben von Schwesterchen, meinen damals noch geschätzten schwarzlockigen Gefährten, und den tödlichen Gin Tonic, der auf meine Unfähigkeit, Longdrinks nicht nur zu trinken, sondern auch zu mixen, zurückzuführen ist.

Wir müssten uns von anderer Gelegenheit her kennen, sage ich, die sich nunmehr ganz genau an diesen Jahreswechsel erinnern kann. Er sei doch nicht verrückt, sagt mein Gegenüber. Er wisse noch ganz genau, was auf dem Tisch gestanden habe bei jener Kreuzbergerin, die den guten Dingen aus der Küche sehr zugetan sei. Er zählt die Speisefolge auf, und ich bin mir sicher, derartige Dinge bei jener Bekannten überhaupt nie zu mir genommen zu haben.

„Das werden wir wohl nicht aufklären können.“, sage ich, und wünsche ihm noch einen schönen Abend. Nun wird der Fremde ein wenig ungehalten. Ich hätte ihn damals nicht nur nicht angerufen, was angesichts der Existenz des vormals geschätzten Gefährten zwar verständlich sei, nach dem Verlaufe dieser Silvesternacht aber nicht gerade zu erwarten gewesen wäre. Nun behaupte ich sogar, mich noch nicht einmal an ihn erinnern zu können? Er wisse nicht, was ich für ein Problem habe, aber schließlich habe er noch alle Gedanken beisammen, und wenn ich mich nicht (danke, Herr Kid) erinnern könne, was ich an so markanten Daten wie dem 31.12. getrieben habe, dann täte ich ihm rechtschaffen leid. Sprach´s, machte kehrt, und setzte sich ganz weit weg.

Wenig später, die Freundin ist unterdessen angekommen, frage ich sie, die zumindest meiner Erinnerung nach an jenem Abend mit mir in der Volksbühne getanzt hat, nach dem vorletzten Jahreswechsel. Sie überlegt lange. „Da waren wir in der Volksbühne.“, sagt sie, und ich atme auf. Also doch nicht Alzheimer. „Siehst du den Kerl da drüben?“, frage ich. „Nie gesehen.“, sagt sie.


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