Freitag, 8. Juli 2005

Das Bittere und das Saure

„Hast du deinen Bruder erreicht?“, frage ich die C., die beruhigenderweise nickt. Alles in Ordnung. Aufatmen. In den Gläsern klirren die Eiswürfel leise und melodisch aneinander, und als die Musik angeht, sprechen wir ein bißchen über dieses sonderbare Gefühl, dass diese Menschen den Westen, dieses inhomogene Gebilde, hassen für exakt die Dinge, die auf Freiwilligkeit beruhen, und bei denen keiner mitmachen muss: Die Wahlfreiheit über sein Leben zu haben, mit sich, seinem Körper, seinen Leidenschaften zu tun und zu lassen, was man will. Keiner zwingt die bärtigen, verkniffenen Männer aus der Zeitung dazu, der neuesten Prada-Kollektion zu verfallen, niemand zwingt ihre Frauen, statt riesiger schwarzer Stoffsäcke bauchfrei und gepierct mit einem Mojito in der Hand auf den Tischen zu tanzen. Niemand weist diese Leute an, statt an einen Gott und seinen Propheten an viele Götter oder gar keinen Gott zu glauben, und Erlösung nicht im Gebet, sondern bei Wal-Mart zu suchen.

„Diese Leute,“, meint der O., „haben die Relativität der Zeichenwelt nie verstanden.“, und ordert einen Kir Royal. Mangels einer noch irgendwie weltumspannend Verbindlichkeit beanspruchenden Idee, wie es Gott für das Mittelalter war, oder die Revolution und der Fortschritt für die Moderne, könne von einer irgendwie gearteten ideellen Hegemonie ohnehin nicht mehr die Rede sein. Auch The American Way Of Life sei daher nur so einflussreich, wie jeder ihm eben zugestehe, und dass die Bewohner der Slums dem Mythos von Beverly Hills begehrlich und hasserfüllt aufsäßen, sei schließlich nicht weiter erstaunlich. „Macht gibt es eben immer nur im Kopf.“, sage ich, ein bißchen unbehaglich, weil es dort nicht stimmt, wo die Macht der Zeichen auf die körperliche Ebene überschwappt.

„Am meisten nerven mich eigentlich die geistigen Konzessionen, diesen Verständniskotau, den die Weichspülpresse so absondert.“, meint der O., und die C. nickt: Das entschuldigende Gerede von der miesen wirtschaftlichen Lage in manchen Regionen und dem Erbe des Kolonialismus: Ganz so, als seien Missgunst und Vergeltung in irgendeiner Weise berechtigte Empfindungen, deren Emanationen man in ihrer Intensität missbilligen könne, die aber dem Grunde nach nicht völlig abwegig seien. - Der reflexhafte Verweis auf die Politik der USA oder Israels, oft geprägt von einer puren, grundsätzlichen Gegnerschaft, die über Kritik im Detail weit hinausgeht, und im schlimmsten Fall geprägt ist von hämischer Opposition: Sündenfall der politischen Linken.

„Lass´ uns über was Angenehmes reden.“ sage ich, und wir bestellen bei der Kellnerin im viel zu kurzen Rock und mit den wippenden Zöpfen Gin Tonic und trinken auf unsere Welt mit ihren schneidenden Kanten und Widersprüchen, ihrer brausenden, wortreichen Leere, die wir füllen können, wie immer wir lustig sind. Auf die Freiheit, zwischen vielen Leben wählen zu können, und von heute auf morgen fortzugehen. Auf die Freiwilligkeit, die unseren menschlichen Beziehungen zugrundeliegt: Das Geschenk, das darin besteht, dass jeder, der mit uns seine Abende verbringt, dies ganz und gar freiwillig tut. Das Glück eines Lebens, dass auch dann, wenn es keinen postmortalen Ausgleich gibt, ein Gelungenes gewesen sein wird: Hier im orangefarbenen Licht, das Lächeln auf dem Weg an der Bar vorbei, die Musik, die einen weich umspült, und ein wenig bitter und säuerlich allein die glasklare Füllung der Gläser zwischen den Eiswürfeln an einem Abend in Mitte.


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