Rausch der Abwesenheit

In sauberer, morgenfrischer Kühle nach Schönefeld. Die Stadt entschwinden zu sehen, und sich schließlich verlieren zwischen den fremden Häusern. Durch die geputzte, blanke Altstadt von Riga, und ein bißchen bedauern, dass es die Melancholie des Verfalls zwischen den alten Mauern dahingerissen hat. Rechts und links laufen blonde, schlanke Menschen mit entschlossenem Gesichtsausdruck einer Zukunft entgegen, die nicht gesäumt sein mag von der Melancholie des Absinkens in Sepia und einem verschwimmenden Türkis. Bei einem Vorstadtbäcker Piroggen kaufen, und in einem beiläufigen, fremden Park auf einer Parkbank sitzen und den Schwänen zuschauen: Rausch des Reisens, der nicht von der Neuheit lebt, nicht von der Sensation der Eindrücke, sondern von der schieren Abwesenheit. Urlaub von sich selbst.

Neugierde mag andere treiben, aber so grandios ist es ja nicht, vor der Akropolis zu stehen, oder neben den Pyramiden. So anders ist auch die Altstadt Rigas nicht, und auch den Jugendstil hat man in Brüssel üppiger ranken gesehen oder in Wien. Großartig ist nicht die Neuheit. Großartig ist die Abwesenheit vom eigenen Leben: Sich in der Gepäckablage deponieren, die Schwere des festgefügten Lebens auf Tage oder Wochen verlassen, und der Welt abhandenkommen. Träges, seliges Fließen. Eine Fremde auf einer Parkbank oder wartend an einer Bushaltestelle in einem Vorort einer fremden Stadt. Ein winziger, sich bewegender Punkt auf einer Landstraße zwischen Wäldern. Es über den Wiesen summen hören auf dem Weg zu einem längst verlassenen Herrensitz. Am Strand ein paar russischen Buben beim Ballspiel zuschauen, und mit der Freundin über Dostojevski sprechen mit langen Pausen, in denen die Wellen sacht den Strand erreichen.

Man überlässt sich der Fremde, denkt selten nur und flüchtig an die komplizierten Fäden und Muster, in die man eingesponnen sein mag, und die in aller Erwünschtheit halten: Saiten, auf denen man spielen muss. Lose nun hängen die Bandagen des Lebens rechts und links herab. Möge man immer so fahren, denkt man. Flüchtiges, schillerndes Öl auf den Wassern fremden Seins. Willenlos, dahinfahrend und gleitend und ohne Ziel.

Warm umspielt die Sonne die Haut und neckt liebevoll die Wange mit dem eigenen Haar.
che2001 - 23. Jun. 2005, 8:42 Uhr

Gute Reise und viele schöne Eindrücke!
Aber: Es ist nicht grandois, neben den Pyramiden zu stehen? Also, ich war bis ins
Mark erschüttert!
Modeste - 23. Jun. 2005, 9:12 Uhr

Nein, nein - bin schon wieder zurück. Nur fünf Tage mit einer Freundin nach Riga und Tallinn. Und die Pyramiden habe ich vielleicht zu früh gesehen, oder mir zu viel erwartet, ich weiß es nicht. Es gibt ein Photo, auf dem ich, acht Jahre alt und ziemlich skeptisch daherschauend, die Pyramiden betrachte. Ein zweiter Versuch mit den Pyramiden und mir vor einigen Jahren führte gleichfalls irgendwie nicht zur erhofften Sensation. Vielleicht später, irgendwann.
che2001 - 23. Jun. 2005, 12:53 Uhr

Als ich 8 Jahre war, war das höchste Bauwerk außerhalb Braunschweigs,
das ich kannte, der Leuchtturm von Büsum. Als ich Kind war, fuhren die Eltern
mit mir an die Nordsee und in den Harz, Auslandsurlaub wäre undenkbar gewesen,
bis ich es mit 12 durchsetzte, in die österreichischen Alpen zu fahren.
Im Nichtdeutschsprachigen Ausland
war ich zum ersten Mal mit 20, außerhalb Europas mit 26. Dafür bin ich heute dankbar:
Weil ich viele Sehenswürdigkeiten von Weltrang, die zu sehen ich geträumt habe,
seit ich sie in Kinderbüchern sah, erst als Erwachsener zu sehen bekam, hat sich
in mir ein Gefühl des Leicht-Beeindruckt-Sein-Könnens im Allgemeinen und der
Ehrfurcht vor der Antike im Besonderen erhalten, das zeitlos ist. Vor dem Tempel von
Karnak könnte ich glatt auf die Knie fallen und Amon Re anrufen.

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