Mittwoch, 9. Februar 2005

Emotionale Intelligenz

Das Telephon klingelt, und meine Schwester würde wetten, dass ich nicht weiß, wo sie ist. Keine zehn Minuten später steht sie vor der Tür und neben ihr steht ihr grauenhaft grobschlächtiger Freund. Wer sein Unternehmen von so etwas beraten lässt, hat es nicht anders verdient, schießt es mir durch den Kopf.

Schwesterchens Kerl hat beruflich den ganzen Tag zu tun. Auch ich bin nicht ganz beschäftigungslos, ganztägige Einkaufstouren verbieten sich also schon aus diesem Grunde von selbst. Schwesterchen zieht einen Schmollmund und wirft sich auf mein Sofa. „Ich hab´ mich schon so auf dich gefreut.“, jammert Schwesterchen. Wir einigen uns auf eine gemeinsame Mittagspause und abendliche Lustbarkeiten.

Vorerst bleibt Schwesterchen auf dem Sofa liegen und schaut versonnen die Reihe der Bücherregale entlang zum Fenster. „Du hast´s gut,“ sagt Schwesterchen, „du kannst lesen.“ Seit Schwesterchen im Staatsexamen stecke, lese sie kaum noch. Den ganzen Tag – und dann auch noch abends, das wäre zuviel. Ich kann mich allerdings gerade nicht erinnern, Schwesterchen im gemeinsamen Elternhaus jemals mit Büchern gesehen zu haben. Dann schreitet Schwesterchen an den Büchern vorbei Richtung Esstisch. „Wenn Papa mal stirbt, hast du ja alles doppelt,“ spricht sie und deutet auf die Bücher. Dann lässt sie sich den Tee eingießen, plaudert ein bißchen von einer Kaffeeverkostung, schimpft über ihren Friseur und wirft sich tatsächlich mitgebrachten Süßstoff in meinen weißen Tee.

Anschließend geht Schwesterchen einkaufen, ich gehe arbeiten und sie ruft immerhin nur zweimal an. Ja, ich finde A.P.C. auch in Ordnung. Und wir treffen uns bei den Galeries Lafayette.

Bevor ich losfahre, stelle ich mich vor den Spiegel. „Das ist meine einzige Schwester und ich muss nett zu ihr sein.“. schärfe ich mir ein. „Aus meiner intellektuellen Herablassung gegenüber meiner schönen Schwester spricht der blanke Neid.“, wiederhole ich, was ich seit Jahren weiß. „Was ich jemals gelesen, gelernt oder geleistet habe, ist völlig egal in Ansehung ihres bombastischen Aussehens.“, mache ich mich fertig.

In den Galeries Lafayette isst Schwesterchen sechs Austern und drei Petit Fours. „Du langst ja ganz schön hin, Liebchen.“, meine Schwester strahlt mich an. „Mir schmeckt´s halt.“, gebe ich wütend zurück. Schwesterchen zeigt ihre Neuaquisitionen in Größe 34/36.

Ich erzähle ein bißchen vom Besuch unseres Vaters bei mir. „Der interessiert sich doch eh nur für dich.“, unterbricht sie mich. Und dass sie Jahre gebraucht habe, diesen Satz für sich zu formulieren. Ich starre sie an. Ich hatte in den letzten 26 Jahren nie das Gefühl, Schwesterchen könne an der väterlichen Wertschätzung auch nur irgend etwas liegen. Außerdem wird Schwesterchen schon von ausreichend Leuten geschätzt. Dass wenigstens unser Vater nicht zum Verein zur schwesterlichen Anbetung gehört, finde ich ausgleichend und richtig. Und das sage ich auch.

„Dir geht´s doch gut.“, sagt die kleine Schwester. Bei mir funktioniere im Normalfall alles, was ich mir vornehme. Die meisten Menschen würden mich mögen. Und die Liebe sei mir ja ohnehin nicht so wichtig. Sie persönlich würde für ihre große Liebe ja alles tun, sogar ihr Studium abbrechen. Aber emotionale Intelligenz werde unterschätzt.

Ich atme tief durch. Nett sein. Einzige Schwester. Bloßer Neid.

Dann sehe ich auf die Uhr, verabschiede mich hastig und lasse Schwesterchen in den Galeries Lafayette sitzen. „Aber heute abend gehen wir aus.“, freut sich meine kleine Schwester und lacht mich an. „Ich freue mich auch!“, winke ich und stehe schon im Aufzug.

Noch zwei Stunden. Und keine Anfälle von emotionalem Schwachsinn. Nett sein. Nett.


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