Sturmtruppen der Reaktion
Im gesamten ersten Lebensjahr hatte der F. nichts. Also so gar nichts. Noch nicht einmal einen Schnupfen, Durchfall oder Koliken oder so. Wir verließen das Krankenhaus vielmehr nach ein paar Tagen mit einem selig schlummernden F. und hatten fortan nur noch anlässlich der vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen mit dem Gesundheitswesen zu tun. Da erschienen der J. oder ich dann also jeweils mit unserem Sohn auf dem Arm beim Arzt, ließen uns bestätigen, dass mit jenem alles stimmt, und dann gingen wir wieder nach Hause.
Mit der Kita änderte sich das auf einen Schlag. Anfang Januar brachten wir den F. in diese an sich segensreiche Gruppeneinrichtung. Zwei Wochen später war er eingewöhnt, hatte sich also damit abgefunden, fortan seine Tage mit den Kindergartentanten und den anderen Kleinkindern der Gruppe zu verbringen, und nach circa zehn weiteren Tagen fing er an zu schniefen. Seitdem ist eigentlich immer irgendwas. Derzeit hustet der F. dermaßen gottserbärmlich, dass ich ernsthaft überlege, künftig mit Ohropax zu schlafen. Außerdem laufen ihm pro Stunde mehrere Deziliter Sekret aus der Nase. Die Bindehautentzündung von letzter Woche ist zum Glück gerade wieder weg.
Nun könnte man das alles unter "Abhärtung" verbuchen. Der Mensch ist vielleicht einfach so gestrickt, dass er das Stahlbad der Infektionskatjuschas als Kleinkind erst einmal braucht, um dann um so gestärkter den Herausforderungen des Lebens entgegentreten zu können. Was aber unter dieser Prämisse keinen wirklichen Sinn ergibt: Der J. und ich schniefen auch. Wir husten alle beide den ganzen Tag wie alte Hunde. Der J. hatte sogar letzte Woche richtig Fieber und Schüttelfrost. Dabei brauchen wir doch gar keine Abhärtung mehr. Wir sind nämlich alle beide den normalen Keimen eines Berliner Alltags durchaus gewachsen, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, die wir ja auch irgendwie überlebt haben.
Hier sitzen wir nun also leicht geschwächt auf dem Sofa und rätseln über den evolutionären Sinn dieser Dauererkältung. Handelt es sich - so mutmaßen wir - vielleicht um eine Maßnahme, mit der ER, der große Beweger, verhindern will, dass Schwächlinge mit einem degenerierten Immunsystem ihr erstes Kind überleben und gar weitere Kinder zeugen, die dann auch alle so eine schlechte Immunabwehr haben wie ihre Eltern? Oder benötigt der Körper eine Auffrischung des als Kleinkind erworbenen Immunschutzes alle paar Jahrzehnte, und weil wir bis gegen Ende unseres vierten Lebensjahrzehnts mit dem Kinderkriegen gewartet haben, fällt diese Reimmuniesierung jetzt einfach mal ganz besonders heftig aus? Oder handelt es sich schlicht um ein Komplott, eine Verschwörung, eine biologische Bombe, mit der interessierte Kreise Eltern subtil bestrafen wollen, die ihre Kinder nicht mindestens bis zur Einschulung zu Hause behalten, eine Art Komplementärmaßnahme zum Betreuungsgeld also, die einerseits unsereinen dazu bringen soll, den F. aus der Kita zu nehmen, andererseits andere Leute, die uns kennen, abschrecken soll, eine Fremdbetreuung in Anspruch zu nehmen?
Mehr und mehr leuchtet mir die letztgenannte Alternative ein, und so bleibt mir nur noch zu fragen: Wer genau war der Übeltäter, und wie legt man jenem das Handwerk?