Sonntag, 12. September 2010

Eigentlich schon eher nicht

Wenn ich einkaufen gehe, siezen mich die Leute beim Bäcker. Wenn ich sage, was ich beruflich mache, zuckt keiner mehr wie noch in den ersten Jahren, als ich ganz neu war, so circa dreißig damals, und mich ab und zu Leute mit einer Referendarin verwechselt haben oder gleich mit dem Sekretariat. Ich scheine so auszusehen, wie ich bin.

Wenn ich ausgehe, gehöre ich zu den älteren Frauen im Laden. Ich bin noch nicht zu alt, das nicht, in Berlin geht viel, was woanders nicht mehr so recht ausschaut, aber zu den Mädchen vor den Boxen, ganz vorn, da wo die Musik spielt, gehöre ich nicht mehr. Wegen mir sind die Jungs nicht da, die mit den Lederjacken und den Sonnenbrillen und dem Roman, den sie mal schreiben werden, wenn sie ein bißchen gelebt haben werden und da was ist, über das man schreiben kann. Mich sehen die nicht mehr. Ich bin nicht mehr da.

Fremd fühlt sich das an, aber ganz okay, irgendwie schon passend zu der Frau im Spiegel, die mehr Kostüme hat als Sachen für nachts, aber ab und zu, wenn keiner dabei ist, im Spiegel im Bad oder in der Schaufensterscheibe im Vorbeilaufen, halb aus den Augenwinkeln, ist ich noch jemand anders, jemand von früher vielleicht, den ich besser kenne und der mir lieber sein mag, aber darauf kommt es wohl sicherlich kaum mehr noch an.

Montag, 6. September 2010

Ein jeder Mensch ist ein Abgrund

Ferdinand von Schirach, Schuld, 2010

Es ist eine verbreitete Vorstellung, der Mensch werde gelenkt wie eine Marionette. Irgendwo, unsichtbar, hinter den Kulissen, sitze der Puppenspieler und lasse den einen stolpern, den anderen lachen, zwei jagen einander von rechts nach links, und wenn es dem Puppenspieler gefällt, lässt er einen die Hand heben, und ein anderer bleibt still auf der Bühne liegen. Einen Moment bleibt das Publikum dann betroffen sitzen und schweigt. Im nächsten kommt schon die Polizei, es wird geschäftig, Staatsanwälte klagen an, Strafverteidiger treten auf, und schließlich fällt der Richter ein Urteil. Das Puppenspiel über ein Verbrechen mag vorbei sein, in diesem Moment. Über den Puppenspieler aber haben wir nichts erfahren. Das Verbrechen, den Mord, das Böse, wenn man so will, können wir sehen. Was es ist, sehen wir nicht.

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Sonntag, 29. August 2010

Ein anderer Schlag des Herzens

Irina Liebmann, Wäre es schön? Es wäre schön, 2008

Was in der Geschichte des Kommunismus schief gelaufen ist, ist nicht nur unter Historikern vermutlich ein Gegenstand wüster Diskussionen und klaffender Meinungsverschiedenheiten, doch wie auch immer es dazu kommen, dass aus einer berauschenden Vision von Freiheit, Gerechtigkeit und Völkerliebe am Ende nichts wurde als die engherzige, bisweilen lächerliche und in jeder Hinsicht unangemessene Herrschaft einer verlogenen Bürokratie: Fest stehen dürfte, dass die Realität aus FDJ und Plattenbauten die faszinierende, romantische Seite des kommunistischen Projekts so gründlich aus dem Bewusstsein Europas gebrannt hat, dass selbst die Renegatenromane des 20. Jahrhunderts – die Koestler, Sperber et. al. – uns nichts mehr anzugehen scheinen. Der große Traum ist vorbei.

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Freitag, 27. August 2010

Schwarze Magie

Wenn Sie, sehr geehrte Damen und Herren, guten Zugang zu den Mächten der Unterwelt haben, melden Sie sich bitte bei mir. Ich habe eine kleine und sicherlich zu erfüllende Bitte. Allerdings kann es etwas dauern, bis ich auf Ihre E-Mail antworte, denn zwar habe ich meine neue Wohnstatt bezogen, die Möbel eingeräumt, Bilder aufgehängt und aller Welt mitgeteilt, dass ich umgezogen bin, aber insbesondere Vodafone scheint das nicht zu interessieren.

Statt des zunächst zunächst angekündigten 13.08. soll das Internet nun erst am 06.09. wieder laufen. Ursache sei - so hat man mir gestern am weit entfernten Ende einer langen Irrfahrt durch die telekommunikativen Labyrinthe des Unternehmens mitgeteilt - eine notwendige Adresskorrektur, weil der Mann, dem ich telefonisch die neue Adresse durchgesagt habe, etwas falsch verstanden hatte.

Fürs Erste bin ich also nur übers iPhone online. Leider ist der Empfang ziemlich schlecht. Einen Stick oder so habe ich nicht. Auf meine Telefaxschreiben, ich bräuchte das Internet auf jeden Fall sofort und nicht erst am 06.09. reagiert niemand. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.

Ich brauche Magie.

Sonntag, 1. August 2010

Heimwerkerin

Wissen Sie, ich koche wirklich passabel. Ich kann auch Vorhänge nähen und Marmelade kochen. Ich kann mindestens zwanzig Kuchen ohne Rezept und Waage mit einer Tasse, einem Löffel und einem Schneebesen zubereiten. Ich weiß, wo man einen Kardinal hinsetzt, wenn ein Minister kommt, kann Servietten zu Blumen, Frackhemden oder Segelschiffen falten und fehlerfrei einen Hasen abziehen, spicken und braten. Einen Hammer allerdings hatte ich noch nie in der Hand, und vor Bohrmaschinen habe ich Angst.

So ungefähr 30 Jahre meines Lebens war das kein Problem. Munter kaufte ich drauflos, Bilder, Spiegel, Lampen und Möbel wurden erworben, und wenn ich mit der Beute daheim eintraf, lagerte ich alles auf der Mitte der Dielen und griff (nein, nicht zum Werkzeugkasten) zum Telephon, denn stets gab es mindestens einen Freund, der von diesen Dingen etwas verstand. Immer gab es zumindest einen guten Bekannten, der einen wohlausgestatteten Werkzeugkoffer, erstaunliche Fähigkeiten und hinreichende Bereitschaft besaß, und unter den glücklich befestigten Lampen, in gestrichenen Wohnungen und auf zusammengeschraubten Möbeln servierte ich zum Dank für diese Mirakel der Heimwerkerskunst irgendetwas zu essen.

Die Jahre aber kamen und gingen. Die Freunde und Bekannte mutierten von Studenten mit einem Haufen Zeit erst zu Doktoranden, Referendaren und Assessoren ohne Job und dann zu Anwälten, Redakteuren, Richtern und Beratern, deren Terminkalender ungefähr so voll ist wie die U 2 morgens um acht. Ungefähr zeitgleich - man muss sich das als einen sehr allmählichen Prozess vorstellen - setzte sich der J. in meiner Wohnung fest, erst ein bißchen und bevorzugt zu den Mahlzeiten, dann auch mal für länger, ein Wochenende oder so, und schließlich zog er ein.

An sich - und so war der Plan - hätte nun der J. meine Spiegel anbringen, meine Duschen reparieren und meine Wände streichen sollen, weil man, so will es die Konvention, nur dann Dritte um handwerkliche Gefallen bitten kann, wenn man keinen Gefährten hat. Einen vollen Werkzeugkoffer mitsamt Akkuschrauber und Winkelschleifgerät hätte daher, so hatte ich es mir vorgestellt, der Herr meines Herzens in meine Wohnung schleppen müssen, der J. indes schleppte nur sich selbst, seine hundert Hemden und ein paar Möbel zu mir und ließ sich aufatmend nieder, denn in vom J. gestrichenen vier Wänden kann nur ein Blinder wohnen, und wo der J. haust, tropfen die Wasserhähne. Der J. nuschelt derweil irgendetwas von Installateuren.

Jahr um Jahr lebten der J. und ich sodann in derselben Wohnung. Rund um uns herum renovierte man die ganze Stadt östlich des Alex von grau, billig und ostig zu chic, neu und ganz schön teuer, und nur bei uns daheim nagte der Zahn der Zeit an den gebrechlichen Einrichtungen der zeitlichen Welt, die nach und nach mürbe wurden, um dem Ansturm der Vergänglichkeit schließlich nachzugeben wie mürbe Zähne von Greisen: Silikonfugen wurden dunkel. Vom einen Wasserhahn fiel auf einmal etwas ab und der Wasserstrahl spritzte fortan in jede erdenkliche Richtung. Am anderen Waschbecken funktionierte auf einmal der Stöpsel nicht mehr, und als der Duschkopf nicht mehr so wollte wie ich, fuhr ich irgendwann selbst zu OBI und kaufte einen neuen. Auch zerfetzte irgendwann die Katze Teile unserer Tapete. Die Farbe an den Wänden ließ nach. Über dem Badezimmerspiegel hatte ich nie eine Lampe und entferne meine Kontaktlinsen bis heute in einem intuitiven Näherungsverfahren, das auch ganz ohne Licht funktioniert.

Ab und zu sprach ich den J. an, der auf professionelle Handwerkern verwies oder einfach nur folgenlos nickte. Irgendwann stellte ich das Ansprechen ein und arrangierte mich mit dem Gegebenen, denn geworfen ist der Mensch in die vorhandene Welt und die Auflehnung ebenso nutzlos wie töricht. Stets nutzte ich daher das Waschbecken, bei dem das funktionierte, was ich gerade zu benötigen meinte, sah nicht hin, wie die Silikonfugen aussahen, und immer weiter wäre der Verfall sacht und leise um mich herumgeschlichen, bis ich umzuziehen beschloss und erwarb vor zehn Tagen eine Wohnung unweit von hier gemeinsam mit meinem geschätzten Gefährten.

Ein Nachmieter für meine alte Wohnung fand sich schnell. Auch ein Übergabetermin war zügig vereinbart, doch zur Übergabe gehört, wie die Welt weiß, die Wiederherstellung eines vertragsgemäßen Zustandes, und dieser lässt sich für ein vernünftiges Verhältnis von Aufwand und Zeit nur in begrenztem Maße an Handwerker delegieren.

Der J. sah irgendwie schon eher nicht nach Aktivität aus. Also wurde ich selbst aktiv. Einen Werkzeugkoffer habe ich letztlich erworben. Im Internet habe ich Anleitungen für die Reparatur etwa von kaputten Waschbeckenarmaturen gesucht. Ersatzteile habe ich gekauft bei dem Heimwerkerladen in der Schönhauser Allee, der irgendwie alles hat, obwohl der ganze Laden nicht größer ist als meine Küche. Den ganzen Samstag kauerte ich auf den Fliesen im Bad und probierte hintereinander alle Schraubenzieher und Zangen aus. Samstag abend funktionierten beide Waschbecken reibungslos.

Dass die von meinem Vater gebohrten Dübellöcher mit einer Substanz namens Moltofill gefüllt werden können, habe ich gleichfalls dem Internet entnommen. Auch habe ich gelesen, dass die Tapete ohne Weiteres mit Flüssigrauhfaser geflickt werden kann. Voraussichtlich werde ich selbst demnächst ganze Lampen unter die Decken der neuen Wohnung hängen, und sobald der J. sich anschicken sollte, Vorhänge zu nähen und Marmelade zu kochen, greife ich möglicherweise selbst zu einer veritablen Bohrmaschine des Fabrikats Bosch und versehe eine echte Wand mit nützlichen Löchern.



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