Montag, 14. Juni 2010

Der Hallenwart

Auch der Herr L. sei tot, der die Sportanlagen gewartet habe, erzählt mir der C., der letztes Jahr einen Vortrag an unserer alten Schule gehalten hat. Totgefahren habe er sich, hat der C. gehört, vor einigen Jahren. Ob ich gewusst hätte, fragt mich der C., dass der Herr L. in seiner Jugend Leistungssportler gewesen sei, und ich nicke. Irgendein Sportlehrer, vielleicht der Dr. H., der Sport und Latein gab und ein bißchen aussah wie Hans Albers, hatte mit diesem Verweis dem Herrn L. mehr Autorität zu verschaffen versucht, damit der Herr L. nicht mehr gehänselt werde. Geholfen hat es nichts.

Wer den Herrn L. an die Schule gebracht hatte, weiß ich nicht, und auch der C. kann nichts dazu sagen. Der Schulleiter, Herr Dr. D., hatte einige Versorgungsfälle an die Schule gebracht, die Sekretärin etwa, eine grämliche, bittere Geigerin nach einem schweren Unfall. Den Bibliothekar, dem irgendetwas Unschönes zugestoßen war und der deswegen nicht mehr als Lehrer arbeiten durfte, aber es trotzdem tat, ab und zu und nur zu Vertretungszwecken. Auch den Herrn L. wird der Dr. D. auf diesem Wege in die Schule gebracht haben, wo er in einer kleinen Wohnung über der alten Sporthalle hauste, die er mit mehreren Schlössern und Stangen verriegelte. Man erzählte sich, die Wohnung sei volle Pokale. Gesehen hat sie niemand von uns von innen.

Herr L. sprach auch ziemlich ungern mit uns. Er rauchte viel, er hatte einen kleinen Hund, und er schien entweder sehr schlecht zu verdienen oder Kleidung war ihm ganz und gar unwichtig. Jedenfalls trug er fast immer dasselbe: Eine graue Hose. Ein kurzärmliges, kariertes Hemd. Im Sportbereich einen blauglänzenden, billigen Jogginganzug. Neben ihm lief den ganzen Tag sein Hund durch die Schule und kläffte.

Mag sein, dass es am Kläffen lag. Vielleicht war es aber auch nur jugendliche Lust an der Destruktion, aber schon vor unseren Jahrgängen war es beliebt in gewissen Kreisen, den Hund abzufangen, einzusperren irgendwo in einem abgelegenen Raum der teilweise recht verwinkelten Schule, abzuschließen und den Herrn L. dabei zu beobachten, wie er den Hund suchte. Natürlich kläffte der Hund die ganze Zeit weiter, früher oder später fand der Herr L. den Hund dann auch jedesmal, wenn nicht eine mitleidige Seele den Hund vorher befreite.

Eine besondere Freude war es manchen, den Hund einzufangen, wenn der Herr L. getrunken hatte. Der Herr L. trank zuviel, das wusste jeder, und auch, dass der Direktor ab und zu den Herrn L. zu sich ins Büro holte und ihm einschärfte, er müsse weniger trinken, denn in einer Schule ist Alkohol zu recht nicht gern gesehen. Der Herr L. trank trotzdem so viel, dass er nicht mehr nach seinem Hund suchen konnte, und diejenigen, denen das Verstecken des Hundes eine Freude war, standen jubelnd nebeneinander auf der Empore im ersten Stock und sahen dem Herrn L. zu, wie er durch die Schule schlingerte und schwankte, immer dem Kläffen nach. Mehrfach gab es in diesen Jahren Verweise, Tadel und Rügen wegen dieser Attacken auf den Hund. Einer der betroffenen Väter empörte sich über diese Verwarnungen und verlangte, der Herr L. müsse weg, aber bevor es hier zu Kämpfen kam, blieb der Sohn des empörten Vaters zum zweitenmal sitzen und musste auf ein Internat. Der Herr L. blieb.

Irgendwann aber ging der alte Direktor in Pension. Der neue Direktor hielt nicht viel vom Herrn L. Es gab eine Abmahnung, dann eine zweite, jedesmal wegen Alkohol, und schließlich verbot der neue Direktor dem Herrn L. die Haltung eines Hundes auf dem Schulgelände. Der Herr L. - so das Kalkül - würde kündigen und das Gelände verlassen. Der Herr L. aber blieb und brachte den Hund auf einen Bauernhof in der Umgebung zu Verwandten. Den Hund zu verstecken, hatte also ein Ende, aber die Hänseleien hörten nicht auf, sondern wurden eher intensiver.

Inzwischen gab es ab und zu auch direkte Attacken auf den Herrn L. Eines Tages wurde er sogar selbst, wenn auch nur kurz, eingesperrt, wie zuvor der Hund, und anonyme Täter brachen in seine Wohnung ein und hinterließen dort mehrere Kilo Konfetti. Es gab wohl auch einen Kündigungsversuch des neuen Rektorats, der allerdings am Schulverein scheiterte, dem der Herr L. leidtat, und so wurde das Dasein des Herrn L. wohl unangenehmer von Jahr zu Jahr, aber nicht ganz unmöglich.

Irgendwann aber näherte sich die Altergrenze der Pensionierung. Schon Mitte der Neunziger hätte ich den Herrn L. auf sechzig - steinalt jedenfalls - taxiert, tatsächlich erreichte er wohl erst vor einigen Jahren die Altersgrenze, und eines Tages wurde er verabschiedet. Ich nehme an, dass anders als bei ausscheidenden Lehrern weder der Chor sang noch Reden geschwungen wurden, aber ein kleines Geschenk wird er wohl erhalten haben, und dann war es vorbei. Er musste ausziehen. Er wollte zwar nicht weg, doch die Schulleitung bestand auf dem Auszug. Der Schulverein schaltete sich ein weiteres Mal ein, es gab Angebote, durch Dritte ein geringes Salär für die Nutzung der Wohnung zu bezahlen, und irgendwann gab es sogar Gespräche mit mehreren Gegnern wie Befürwortern des Verbleibs des Herrn L. auf dem Gelände.

Wie die Gespräche ausgegangen wären, kann man nicht sagen. Vielleicht säße der Herr L. bis heute in seiner Wohnung über den Sportanlagen, denn die Beharrungskräfte sind bekantlich (und gerade in derlei Institutionen) größer als die Kraft des Neuen, aber eines Tages stieg der Herr L. in sein Auto und fuhr los. Vermutlich war der Herr L. in den letzten Jahren kein besserer Autofahrer geworden, möglicherweise war er auch ein wenig angetrunken; vielleicht war es schlicht Pech: Der Herr L. kollidierte frontal mit einem LKW und starb auf der Stelle.

Wer die Beerdigung bezahlte, weiß ich nicht. Ich nehme an, die Schule schickte einen Kranz. Bestimmt kam der Direktor nicht selber, aber irgendjemand (vielleicht die mürrische Sekretärin) wird gegangen sein, und die Sportanlagen wartet eine ortsansässige Firma.

Montag, 7. Juni 2010

Azzurro

Schön ist der Lido hier nicht. Tote Äste und Tüten hat das Meer auf den Sand geworfen, Muscheln zerbrochen und zermahlen, und unter bunten, ausgeblichenen Schirmen sitzen rotbraune, faltige Menschen am Strand und schauen auf das Wasser. Zwischen Bikinioberteilen und -hosen quillt wulstiges Fleisch. Dicke Männer füllen Rätselhefte aus. Ein paar junge, an sich ganz gut aussehende Menschen gibt es auch mit zum Teil grotesken Tätowierungen. Naturbelassene Menschen unter vierzig scheinen mancherorts selten geworden zu sein.

Wir aber haben keine Schirme dabei. Wir haben zu sechst auch nur zwei Handtücher, eine Badehose und zwei Bikinis, einen Rest lauwarmes Wasser und ein paar Kekse. Müde bin ich wegen der Mücke heute nacht im Hotelzimmer, so dass der Sand unter meinen Füßen ein wenig schwankt, wenn ich die Augen schließe, und erst in den Wellen werde ich ein wenig wach. "Du hast noch die Sonnenbrille auf.", ruft mir der M. zu, und ich taste mit der linken Hand nach dem Bügel. Tatsächlich.

Das Wasser aber ist klar. Gerade noch kühl genug für diesen heißen Tag, bewegt, aber nicht stürmisch, glitzernd in der italienischen Sonne, grün und blau, gekrönt von Kämmen aus Gischt, vollkommen unter dem straff gespannten Himmel aus Sorglosigkeit und Licht: Nel blu dipinto di blu.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Aber anders

Dass ich ein ganz anderes Leben führen könnte, denke ich vor dem Spiegel und sehe mich an. In einer kleinen Stadt zum Beispiel seit zehn Jahren einen Job haben, morgens alle grüßen, die ich treffe, und am Sonntag mit zwei Kindern und dem Hund an der Leine um einen See spazieren. In einer großen Stadt leben, vielleicht auch das, richtig Karriere machen, so mit Dienstwagen und Fahrer und einem großen Haus. Oder Bilder malen, in Kreuzberg in einem Hinterhaus vielleicht, und mir ausmalen, wie es wäre, wenn einer kommt und etwas kauft.

Ganz anders könnte ich leben und vielleicht sein, denke ich mir und wasche die Hände. Etwas schaffen könnte ich wohl, was den Tag überleben würde und vielleicht auch mich. Ein Kind könnte ich haben, oder einen anderen Mann, viele Männer oder vielleicht auch Frauen. Verliebt könnte ich viel öfter sein und dafür selten aufgehoben, geborgen und warm. In einem anderen Land könnte ich sein und in einer anderen Sprache träumen.

Vorstellen kann ich mir all das, denke ich mir, und ziehe ein Papierhandtuch nach dem anderen aus der Box aus Blech an der Wand. Ausmalen lässt sich das alles, schön wäre auch das andere Leben vielleicht, aber wünschen, wünschen würde ich mir nichts, als das, was ich habe, auch wenn es nicht viel sein mag, nicht großartig auch, kein Rausch, kein Flug, kein Feuerwerk und kein Regenbogen, und nicht Wunsch und Traum, sondern vielleicht nur die Frucht von Gelegenheit, von Phantasielosigkeit und den Dingen, die eben einfach so sind.

Montag, 24. Mai 2010

Schläft.

Angeblich schläft die Menschheit ja immer weniger, und erst recht gilt dies für den Teil der Menschheit, der mich umgibt. Die kokette Klage, man wache ja jeden Morgen um kurz nach sieben von selbst auf und könne gar nicht länger schlafen, hört man allerorten. Meetings werden auf acht Uhr früh angesetzt, bevor es richtig rund geht im Büro, und wer erst so gegen zehn im Büro erscheint, findet gern lange Telephonzettel vor mit lauter Namen von Leuten, die alle schon angerufen haben. Zu diesem Zeitpunkt haben vor Vitalität und Frohsinn berstende Bekannte einem schon auf dem Weg zur Arbeit auf dem Rad an der Ampel Schönhauser Allee/Torstraße erzählt , sie seien bereits eine Stunde gelaufen, bevor sie mit den Kindern gefrühstückt, diese zur Kita gebracht und anschließend Zeitung gelesen hätten. Ob auch ich in der Süddeutschen ... Habe ich natürlich nicht. Ich schlafe zwei Stunden länger als die sehr vitalen Leute, die mir morgens gern begegnen.

Dass ich morgens um neun noch gar nicht ganz lebe, behalte ich deswegen gern für mich. Vermutlich sieht man es mir sowieso an. In der Frühe habe ich außerdem manchmal Wortfindungsstörungen. Wenn ich wesentlich früher aufstehe als gewöhnlich, ändert sich das auch den ganzen Tag nicht mehr. Dass ich schon deswegen nie in den öffentlichen Dienst eingetreten wäre, weil man da so früh anfangen muss, sollte man besser verschweigen, denn Langschläfertum ist gesellschaftlich inzwischen ein bißchen verpönt, wie bereits ex negativo die Eigenwerbung des Bundeslandes Sachsen-Anhalt illustriert: Das bemitleidenswerte ostdeutsche Bundesland wirbt in Ermangelung anderer Vorzüge mit dem Frühaufstehertum seiner Landeskinder, was angesichts der wirtschaftlichen Lage der Region allerdings nicht nur bei mir die Frage aufwerfen dürfte, wozu.

Dass meine hellwachen Bekannten nicht einfach ein bißchen angeben, weiß ich noch aus früheren Tagen. Vielleicht wäre ich auch dann keine bessere Schülerin gewesen, wenn die Schule erst um zehn angefangen hätte, aber etwas besser immerhin wäre die Chance auf schulischen Erfolg vermutlich doch gewesen, und dass ich heute besser Englisch könnte, hätte der Uni-Kurs Rechtsenglisch für Anfänger nicht morgens um 8.15 begonnen, halte ich bis heute für ausgemacht. Schleppte ich mich dann aber doch einmal in Schule oder Uni, überaus früh, um nicht zu sagen, mitten in der Nacht, waren nicht nur ein paar Versprengte mit Schlafstörungen da, nein, Klassenzimmer oder Hörsaal hätte gar nicht voller sein können, putzmunter saßen Mitschüler und Kommilitonen um mich herum und klapperten lebhaft, fröhlich und laut mit ihrem Schreibgerät vor sich hin.

Auch nach Abschluss der Ausbildung ist frühes Aufstehen in offensichtlicher Weise mit Vorteilen verbunden: Erscheine ich gegen zehn, haben andere Leute schon Berge versetzt und Meere überwunden. Gähne ich vor mich hin, setzen fröhliche Frühaufsteher zum Tigersprung an, und dann, wenn die anderen schon die Früchte ihres frühen Fleißes verzehren, kehre ich die trockenen Krümel des Tages zusammen für ein spätes, mageres Mahl. Zurückgeblieben fühle ich mich, schlafend am Rande der Autobahn in eine dynamische Zukunft, von der Evolution überholt, ein übriggebliebenes Vormodell und werde voraussichtlich demnächst aussterben.

Wenn es geht, im Schlaf.

Freitag, 21. Mai 2010

Deutschlandbecher

Diesen Text widme ich meinem lieben J.

Für den Grill Royal sprechen insbesondere seine Gegner. Mit einer Versammlung all derjenigen, die das Essen als mittelmäßig, die Gäste als unelegant, das Interieur als abgeschabt und die Tische als zu eng gestellt tadeln, möchte man einen Abend aus verschiedenen Gründen durchaus weniger gern verleben als mit den Menschen, die ganz gern an der Weidendammbrücke essen, obwohl - aber kommt es darauf an? - der größere Teil der Kritik als eigentlich schon eher ziemlich berechtigt gelten muss. Der Service etwa ist immer charmant, aber nur, wenn man Glück hat, professionell. Teuer, zumindest für die insgesamt noch immer bescheidenen Berliner Verhältnisse, ist der Grill auch, und ein nicht ganz unerheblicher Teil der servierten Speisen ist mit der Bestellung ab und zu nicht oder nur teilweise identisch. Auch die Steaks, dies sei hinzugefügt, sind im Filetstück besser.

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